Tuesday, March 4, 2014

Die Nationaltrainerdebatte

Mit grossem Interesse verfolge ich in den verschiedenen Medien die Debatte einerseits über das Scheitern der Vertragsverhandlungen mit Sean Simpson sowie die Diskussion über geeignete Nachfolger andererseits. Weil ich zu beiden Themen eine dezidiert andere Sichtweise vertrete als die gefühlte Medien-Mehrheitsmeinung, erhebe ich zu diesen Themen meine Stimme:


Sean Simpson:
Sean Simpson ist ein sehr guter Eishockey-Coach, unter ihm hat die Nationalmannschaft den Wandel vom ziemlich erfolgreichen Langweilerteam zum meistens ziemlich erfolgreichen und in einem Fall sogar extrem erfolgreichen Team mit gutem Unterhaltungswert geschafft. Es ist sein Verdienst, dass diese Mannschaft optimistisch und kreativ spielt. Sean Simpson hat in seinem Palmares gute Erfolge vorzuweisen, allen voran der Champions-League-Gewinn mit den ZSC-Lions und die Silbermedaille an der letztjährigen Weltmeisterschaft mit der Schweiz. Jeder ist sein eigener Unternehmer und es versteht sich von selbst, dass Sean Simpson diese Erfolge ausschlachten will. Er ist auf dem Trainermarkt extrem begehrt und dies führt dazu, dass er Forderungen stellen kann und will. Jeder von uns würde in seiner Situation exakt dasselbe tun. Keine Frage: Eine Vertragsverlängerung von Sean Simpson wäre nichts als logisch und sein Abgang ist für Aussenstehende auf den ersten Blick schwierig zu begreifen.

Die Gründe, wieso die Verhandlungen letztlich gescheitert sind kenne ich auch nicht. Aus diesem Grund ist es müssig, mit Schuldzuweisungen um sich zu werfen.


Szenenwechsel zum Schweizer Eishockeyverband mit Marc Furrer an der Spitze:
Marc Furrer sitzt am anderen Ende des Verhandlungstisches und hat die Aufgabe - exakt wie es Sean Simpson berechtigterweise für sich tut – die Interessen des SEHV bestmöglich zu vertreten. Hierzu gehört eine kritische Auslegeordnung des offerierten Angebots. Weil Sean Simpson sehr gute Arbeit geleistet hat geht man beim Gegenangebot in Richtung Limit, man will ja das gute Verhältnis mit dem bisherigen Vertragspartner nicht unnötig strapazieren. Aber es gibt ein Limit und dieses Limit wird selbstverständlich auch durch den Umstand bestimmt, dass Sean Simpson höchstwahrscheinlich nicht der einzige sehr gute Eishockeycoach ist der Schweizer Nationaltrainer sein möchte. Beim Limit meine ich nicht nur Geld sondern auch prinzipielle Ueberlegungen betr. Pflichtenheft, Personalpolitik etc. Als smarter Verhandlungspartner muss Marc Furrer auch ein wenig „Advocatus Diaboli“ spielen wenn es um die Verdienste von Sean Simpson geht. Eine sachliche Betrachtung der Situation zeigt ihm, dass es nicht nur Sean Simpsons Verdienst ist, dass die Schweizer Eishockeynationalmannschaft heute als ernsthafter Aussenseiterkandidat für Weltmeisterschaftsmedaillen gehandelt wird. Sean Simpson hat heute das bessere Spielermaterial zur Verfügung als es Ralph Krüger vor 10 Jahren hatte. Dies ist auch Sean Simpsons Verdienst aber nicht nur. Im Erfolg wie im Misserfolg gibt es immer viele Gründe. Ein wichtiger Grund für die Fortschritte ist sicher, dass in der Technikabteilung des SEHV gut gearbeitet wurde und zwar von Ausbildnern die sich kaum je im Scheinwerferlicht des Medienrummels sonnen können. Und es gibt weitere Gründe für den Aufschwung, nicht zuletzt auch Gründe die im Persönlichkeitsprofil einzelner Spieler liegen. Der langen Worte kurzer Sinn: Marc Furrer MUSS sich überlegen, welchen Anteil Sean Simpson am Aufschwung des Schweizer Eishockeys hat und er muss sich überlegen, was es denn wirklich bedeuten würde, wenn ab nächster Saison ein anderer sehr gut qualifizierter Coach an der Bande stehen würde. Marc Furrer ist ganz bestimmt zum Schluss gekommen, dass die Marktsituation nicht so ist, dass die Schweizer Eishockeynationalmannschaft ohne Sean Simpson zusammenbrechen würde und diese Konklusion führte selbstverständlich dazu, dass sich Marc Furrer bei den Vertragsverhandlungen nicht wie das Kaninchen vor der Schlange hat verstecken müssen. Er hat vermutlich versucht, die Verhandlungen auf Augenhöhe zu führen und dabei nichts anders getan als das was von ihm verlangt wird: Die Interessen des SEHV bestmöglich zu vertreten.
Aus diesen Gründen kann man gemäss meiner mir vorliegenden Faktenlage weder Sean Simpson noch Marc Furrer einen grossen Vorwurf für das Scheitern der Verhandlungen machen. Beide haben ihre Interessen bestmöglich vertreten und konnten/wollten den letzten Schritt zu einer Kompromisslösung nicht tun. „Fair enough“. Reisende soll man nicht aufhalten. Jetzt wird das nächste Kapitel aufgeschlagen. An dieser Stelle auch von meiner Seite: Ein herzliches Dankeschön an Sean Simpson, seine Spieler und seinen gesamten „Staff“: Ihr habt uns in den letzten 12 Monaten einige magische Hockeymomente beschert! 

Die Nachfolge:
Weniger als 48 Stunden nach dem verkündeten Abgang von Sean Simpson werden bereits verschiedene Kandidaten gehandelt und dies zeigt: Sean Simpson ist nicht der einzige hoch qualifizierte Eishockeycoach auf diesem Planeten. Einzig den Namen Ralph Krüger habe ich noch nirgendwo gelesen oder irre ich mich? Es gibt Argumente für alle in den Medien aufgetauchten Namen. Auffallend ist – und an dieser Stelle kritisiere ich Marc Furrer – wie unkritisch und schon fast euphorisch die Personalie Arno Del Curto kommentiert wird. Arno Del Curto ist zweifellos ein guter Eishockeycoach. Was ich an ihm mag ist, dass seine Teams meistens ein sehr attraktives Eishockey zeigen. Tempo, Spektakel, dezidiertes Risiko, dies alles führt zu einem in der Regel hohen Unterhaltungswert wenn man die Spiele der Del Curto-Teams verfolgt. Bei einer kritisch/sachlichen Auslegeordnung muss aber auch festgestellt werden, dass die Erfolge Del Curtos tendenziell überbewertet werden. Er hat die Meistertitel mit der Ausnahme im Jahr 2011 immer mit Teams gewonnen die auch auf dem Papier am besten besetzt waren. Im Jahr 2011 gab es allerdings 2-3 Teams die personell mindestens so gut oder besser bestückt waren als der HCD. Für mich ist der Titel 2011 für das Palmares von Arno Del Curto der Wertvollste. In der Regel liefern aber die Teams von Arno Del Curto in etwa die sportlichen Resultate ab die von ihnen erwartet werden dürfen. Zudem ist der HCD in den letzten beiden Jahren jeweils bereits in der ersten Playoff-Runde ausgeschieden und in der laufenden Saison sind sie im Niemandsland der Tabellenmitte zu finden und dies mit einer eher überdurchschnittlichen Mannschaft. Zudem werden die Spielerentwicklungserfolge von Arno Del Curto tendenziell ebenfalls überschätzt. Kein heutiger Schweizer-NHL-Spieler ist von Arno Del Curto massgeblich geschult worden, auch Nino Niederreiter nicht. Im Falle von Jonas Hiller gehören die "Blumen" vermutlich sehr viel mehr dem HCD-Goaliecoach Marcel Kull. Der HCD holt in der Regel Leistungsträger der U20-Nationalmannschaft und es ist nichts als natürlich, dass sich diese früher oder später zu bestandenen NLA-Spielern entwickeln. Dies hat weniger mit der Schule Arno Del Curtos zu tun, dafür sehr viel mehr mit der erwarteten mittelfristigen Leistungsentwicklung von U20-Leistungsträgern. Wenn man die Fortschritte von jüngeren Spielern wie z.B. Sciaroni, Guerra, Steinmann, Stoop, Bürgler, Sieber, Hofmann, Schneeberger, Grossmann, Ramholt sachlich analysiert dann darf man zwar ein solides muss aber auch ein unspektakuläres Resultat konstatieren. Zudem hat Beat Forster in Davos kaum mehr das Rendement aus seiner besten ZSC-Saison erreicht, er hat stagniert. Ich verstehe ganz einfach den „Hype“ um Arno Del Curto nicht. Es gibt viele Argumente, um ihn als guten Eishockeycoach zu würdigen; kaum aber sachliche Argumente, um ihn als „Messias“ der Eishockeytrainergilde zu feiern. Er ist ein solider, guter Hockeycoach der sich sehr gut und unterhaltend inszeniert, der aber mitunter auch die „Contenance“ und den Respekt vor Andersdenkenden verliert; dies sei ihm allerdings verziehen denn es gehören auch sehr positive Seiten zu seinem Persönlichkeitsprofil. 

Zurück zu meiner Kritik an Marc Furrer: Es ist aus meiner Sicht ein Fehler wenn der Verbandspräsident Marc Furrer leichtfertig verkündet – gemäss „Blick“ war dem so -, dass er Arno Del Curto sofort holen würde wenn Del Curto ein 100%-Mandat akzeptieren würde. Damit vergibt er sich viel Verhandlungsspielraum und zudem signalisiert er mit dieser Aussage bereits jetzt dem Nachfolger von Sean Simpson, dass er nur zweite Wahl ist. Angezeigt wäre, dass man eine sachliche und unaufgeregte Auslegeordnung vornimmt bei der sicher auch Arno Del Curto ein ernsthafter Kandidat sein sollte. Ein Kandidat der sich ebenfalls einer kritischen Analyse unterwerfen muss, nicht mehr und nicht weniger. Mein Anforderungsprofil an den künftigen Nationaltrainer: Smart, unaufgeregt, solider, pragmatischer Stratege der das Rad nicht neu erfinden will, eine Persönlichkeit die sich nicht wichtiger nimmt als die Spieler und sich klar verständlich machen kann. Jemand der sich situativ mit guter Empathie auf die verschiedenen Charaktere in einem Team einstellen kann, kein „my way or highway“-Typ. Muss er bereits Titel gewonnen haben? Nein, sicher nicht, ein solcher Leistungsausweis wird überschätzt. Titel werden in erster Linie durch gute Mannschaften mit guten Spielern gewonnen und erst in zweiter Linie durch einen einzelnen Coach. Wenn mir jemand einen Coach auftischen kann, der beständig bessere Resultate vorzuweisen hat als es das Spielermaterial erwarten lässt dann wäre er bei mir ein ganz heisser Kandidat. Ich kenne aber keinen, darum kehre ich zum von mir beschriebenen Anforderungsprofil zurück. Wenn man dieses Profil mit den vielen portierten Namen vergleicht dann bleiben zwei bis drei übrig. 

Horgen, 4. März 2014 / Thomas Roost



Saturday, March 1, 2014

My silent Olympia Hockey Truth / Deutsche Version - EnglishVersion after the German one

Die laute, spektakuläre, boulevardeske Stammtischwahrheit lautet: Torflaute, das ist die demaskierende statistische Wahrheit über die so genannt weltbesten und weit überschätzten NHL-Skorer wie z.B. Crosby, Nash, Tavares, Ovechkin, Malkin, Sedin etc. Sie alle haben im Olympiaturnier entweder kein oder nur ein einziges Tor erzielt. Dasselbe gilt für die Schweizer. Es hat sich bestätigt, dass sie auf diesem Niveau keine Tore erzielen können.

Meine persönliche „Hockey-Wahrheit“ lautet wie folgt:
Man darf die Statistiken eines Olympiaturniers nicht überbewerten weil es keine wirklichen Statistiken sind, es fehlt schlicht und einfach eine genügende Anzahl von Spielen, um die Statistiken als ernst zu nehmendes Analysetool heranziehen zu dürfen. Die oben erwähnten Spieler verdienen tatsächlich das Prädikat Weltklasse und sie sind nicht überschätzt. Sie beweisen Jahr für Jahr, dass sie auf höchstem Niveau regelmässig zu den besten Goalskorern der Welt gehören. Im so genannten „Big Picture“ kann man trotzdem einiges aus dem Geschehen des Olympiaturniers ablesen: Dieses Turnier hat mehr denn je bestätigt, dass sich das internationale Eishockey weltweit entwickelt hat. In der heutigen Eishockeywelt ist es auch für kleinere Länder gut möglich, 30 kompetitive Eishockeyspieler für das Nationalteam zu nominieren; dies sofern man die Hausaufgaben gemacht hat. Man nehme diese 30 Spieler, verordne ihnen ein leicht verständliches Defensivkonzept und unterstütze einen solidarischen Teamgeist. Das Resultat: Sogar die allerbesten Skorer auf dieser Welt werden grosse Probleme haben, in Turnieren in denen ein einziges Spiel über das Ueberleben bestimmt, zu skoren. Beinahe alles ist resultatmässig möglich in solchen Einzelspielen. Dies bedeutet nicht, dass die besten Spieler der grossen Eishockeynationen nicht besser sind als die guten Spieler der nachfolgenden kleinen Nationen. Die moderne Trainingslehre ist heute weltweit abrufbar und dies führt dazu, dass es heute weltweit viele Spieler gibt die Eishockey auf einem guten Niveau spielen und dieses gute Niveau ist nicht sehr weit vom besten Niveau entfernt. Das ist die moderne Entwicklung im Männereishockey. Im Fraueneishockey kann ich diese Entwicklung noch nicht auf demselben Niveau feststellen obwohl sich auch bei den Frauen das Niveau Schritt für Schritt anzugleichen beginnt. Für den durchschnittlichen Olympiafan der nur ab und zu Eishockey konsumiert ist diese Entwicklung etwas enttäuschend denn er kann mit seinem oberflächlichen Eishockeyknowhow kaum die Niveauunterschiede zwischen den allerbesten Hockeyspielern und den nächstbesten Spielern erkennen. Diese Unterschiede zu erkennen wird immer schwieriger und dies ist für den durchschnittlichen Olympia-Fan alles andere als spektakulär. Wenn Kanada gegen die USA spielt dann neutralisieren sich die besten Spieler der Welt gegenseitig und nur wahre Spezialisten der Szene können das unglaublich hohe Niveau unserer grossartigen Sportart erkennen. Diese normale und gesunde Entwicklung im internationalen Eishockey kann auch uns als leidenschaftliche Hockeyfans und Berichterstatter in ihrer Wahrnehmung gefährlich täuschen. Wir wollen Wahrheiten, wir wollen wissen wer gut und wer schlecht ist und darum lassen wir uns zu oft von Zahlen aus nur sehr wenigen Spielen leiten; dies ist eine Falle die uns gestellt wird. Wir schliessen auf Wahrheiten aufgrund der effektiven Resultate in einzelnen Spielen anstatt, dass wir „Wahrheiten“ suchen aufgrund der wahrscheinlichsten Resultate. Dies ist sehr anspruchsvoll, bringt uns aber den richtigen Schlussfolgerungen näher als das Verweisen auf das „nackte Resultat“. Das oft zitierte Schlagwort „sie haben gewonnen demnach haben sie alles richtig gemacht“ ist sehr falsch denn auch im Sieg macht man nie alles richtig und auch in der Niederlage war nie alles falsch. Wenn Sidney Crosby in fünf Spielen nicht skort neigen wir bereits dazu, ihn als überschätzter Spieler zu titulieren. Sidney Crosby hat ein gutes Olympiaturnier gespielt und aufgrund der Fülle der Torchancen die er durch seine Magie kreiert hat war die Wahrscheinlichkeit, dass er viele Skorerpunkte erzielt sehr hoch. Wir neigen aber auch in diesem Fall dazu, seine effektive Skorerausbeute zu beurteilen und zu interpretieren, ein Fehler. Faire Statistiken (Skorerpunkte pro Minute Eiszeit z.B.) nach einer Saison mit 80 Spielen hingegen sagen sehr viel mehr aus als subjektive Beobachtungen. Die Aussagekraft von fairen Statistiken wird oft unterschätzt, Statistiken aus einzelnen kleinen Turnieren werden überschätzt. Zurück zu Sidney Crosby, er ist alles andere als überschätzt, er ist der beste Spieler der Welt aber der Unterschied zwischen den besten Spielern der Welt und der steigenden Masse der nächstbesten Kategorie an Spielern ist nicht so gross wie der Unterschied zwischen einem 5-Sterne und einem 2-Sternehotel. Die 5-Sterne-Crosbys messen sich heute viel mehr mit 4-Sterne- oder 4 ½-Sterne-Spielern und dies kann durchaus dazu führen, dass in einem kleinen Turnier ein 4-Sterne-Spieler deutlich mehr Skorerpunkte aufweist als ein Superstar. Um bei meiner leisen „Wahrheit“ zu bleiben: Ich konnte den Unterschied zwischen den allerbesten Spielern und der nächstbesten Kategorie sehr wohl erkennen aber die Unterschiede sind kleiner geworden und dies alles führt im modernen Eishockey dazu, dass selbst Lettland an einem Abend in dem alles für sie läuft (Glück, Schiedsrichter, Topform, heisser Goalie etc. etc.) die weltbesten Spieler aus Kanada in einem einzelnen Spiel besiegen kann. Fakt ist auch, dass die heute weltbesten Spieler deutlich besser sind als die weltbesten Spieler vor 20 oder 40 Jahren. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich will Legenden wie Gretzky, Lemieux, Orr, Makarov, Krutov, Fetisov, Larionov usw. nichts von ihrem Glanz wegnehmen, dies wäre extrem unfair und diese Spieler verdienen meinen grössten Respekt. Aber es ist auch klar, dass sie mit ihrem Spielniveau im heutigen Eishockey nicht mehr dieselbe dominante Rolle spielen könnten. Eishockey hat sich entwickelt und dies hat seine Logik: Es ist deutlich einfacher, den Qualitätslevel von Hockeyspielern von 60/100 auf 90/100 zu erhöhen als einen Spieler von 90/100 auf 95/100 zu verbessern. Im modernen Hockey haben wir heute deutlich mehr Spieler mit einem Niveau von 90/100 als vor 20 oder 40 Jahren und diese zahlreichen 90/100-Spieler machen das Leben des vielleicht halben Dutzends 95/100-Stars sehr schwer. So schwer, dass es schwierig ist, diese Unterschiede zu erkennen. Im Olympiaturnier hat es gewimmelt von 90/100-Spielern, es gab noch nie ein Eishockeyturnier mit derart vielen Qualitätsspielern. Ich gebe zu, dass billiges Spektakel auf der Strecke blieb und dies trug nicht unbedingt dazu bei, dass sich unsere grossartige Sportart in bisher unbekannten Eishockey-Ländern vorteilhaft präsentieren konnte. Es war eher ein Turnier für Feinschmecker.

Meine Schweizer „Wahrheit“
Vor ca. 10 Jahren hat sich die Schweizer Eishockeynationalmannschaft zu einem unangenehmen Widersacher entwickelt, seit ca. 10 Jahren spielt man auch als grosse Nation nicht sehr gerne gegen die Schweiz weil ein Sieg kein Selbstläufer mehr ist. Die Schweiz hat dies mit verbesserten und aufopfernd laufenden Spielern erreicht, zusammen mit gutem Goaltending, einer exzellenten defensiven Spielstruktur und einem hart arbeitenden Team, speziell in defensiven Situationen ohne Scheibe. Seit ungefähr 10 Jahren ist es nicht mehr einfach, gegen die Schweiz Tore zu erzielen. In den letzten zwei bis drei Jahren habe ich einen weiteren Fortschritt konstatiert. Die Schweiz hat jetzt einige echt talentierte und hoch entwickelte Verteidiger. Zudem einige Stürmer mit der Fähigkeit, auch auf höchstem Niveau Torchancen zu kreieren. Es versteht sich von selbst, dass der Silbermedaillen-Gewinn an der letzten Weltmeisterschaft kein normales, kein wahrscheinliches Resultat darstellt aber die Schweiz gehört nun zum erlauchten Kreis der Nationen die bei günstigen Umständen auch auf höchstem Niveau eine Medaille gewinnen können. Am wichtigsten für mich – und dies ist der jüngste Fortschritt – die Schweizer können an guten Tagen auf Augenhöhe mit den besten der Welt mithalten. Die Schweizer kreieren auch gegen Weltklasseteams eine ähnliche Anzahl von Torchancen und Torschüssen. Die Schweizer müssen sich nicht mehr nur auf eine hervorragende Defensivorganisation verlassen und zu Gott beten, dass der Torwart über sich hinaus wächst. Es war interessant, zu beobachten, ob sich dieser Trend auch an den olympischen Spielen bestätigt und ja, dieser Trend hat sich bestätigt.

Die laute, spektakuläre, boulevardeske Stammtischwahrheit lautet:
Die Weltmeisterschafts-Silbermedaille war nur eine Fata Morgana, das Schweizer Eishockey wird überschätzt. Das Olympia-Turnier hat gezeigt, dass die Schweizer auf diesem Niveau keine Tore erzielen können und selbst gegen das sehr bescheidene Lettland haben sie verloren.

Zurückkommend auf meine Schweizer „Wahrheit“:
Die Schweiz hat an diesem Olympiaturnier ihre Fortschritte bestätigt und dies hinsichtlich der meisten zu beobachtenden Aspekte. Die Schweiz hat Lettland in beiden Spielen leicht dominiert und dies mit deutlich mehr Torschüssen. Die Schweiz spielte sehr gut gegen Schweden und war nur unwesentlich unterlegen, dies untermauert auch die Schuss-Statistik (26-31). Auch das Spiel gegen Tschechien war gut und ausgeglichen (26-26 Schüsse), allerdings muss man anerkennen, dass der Sieg letztlich etwas glücklich ausgefallen ist. Aufgrund von einigen eher unglücklichen Szenen im 1/8-Final-Spiel gegen Lettland ist die Schweiz früh ausgeschieden. In der Hockey-Fachsprache nennt man dies „some unlucky bounces“. Ja, die Schweiz hat (zu) wenige Tore erzielt aber dies war bereits vor dem Turnier zu erwarten denn die Konkurrenz war schlicht und einfach Weltklasse und der jetzige Aufschrei über die fehlende Torproduktion erstaunt mich. Wenn Spieler wie Crosby, Tavares, Toews, Getzlaf, Nash, St.Louis, Perry, Marleau, Ovechkin, Malkin, Sedin und Kane zusammengezählt lediglich 3 (drei!) Tore zustande bringen (Stand vor dem Goldmedaillenspiel) dann ist es eher eigenartig wenn wir von unseren „No-Name-Stürmern“ eine hohe Torproduktion fordern. „Low Scoring Games“ gehören ebenfalls zum modernen und hochklassigen Eishockey. Es war klar, dass die Schweizer Torproduktion anlässlich der letzten Weltsmeisterschaft nicht der Wahrscheinlichkeitsberechnung entsprochen hat. Positiv ist aber, dass die lediglich 3 erzielten Tore an diesem Olympiaturnier auch nicht der Wahrscheinlichkeitsberechnung entsprochen haben. Gemessen an den Spielanteilen und den Torchancen wären sechs erzielte Tore eher normal gewesen. Ja, mir hat die Olympiavorstellung der Schweizer Eishockeynationalmannschaft gut gefallen. Die Goalies waren gut, die Schweizer hatten noch nie derart gute Verteidiger und mit Roman Josi sogar einen Weltklassemann. Die Stürmer haben sich hinsichtlich Skills ebenfalls verbessert und können jetzt immer mal wieder Torchancen kreieren. Was fehlt noch zur absoluten Weltklasse? Die durchschnittliche Schussqualität ist klar noch nicht auf dem Level der Weltbesten wie auch die Breite, die Tiefe hinsichtlich Stürmer mit genügenden Skills. Im Sturm sind die besten Nationen auf alle Linien verteilt noch spürbar besser besetzt. Aber die Schweizer haben den nächsten Schritt bestätigt und an Weltmeisterschaften ist mit den Schweizern als Aussenseiterkandidat für Medaillen definitiv zu rechnen. Nicht zu vergessen: Die anderen „kleinen“ Nationen haben sich ebenfalls verbessert. Wenn ich sage, dass die Schweiz an einem guten Tag alle besiegen kann dann muss ich im gleichen Atemzug erwähnen, dass Niederlagen gegen Lettland, Deutschland, Norwegen usw.  ebenfalls mindestens noch immer so wahrscheinlich sind wie Siege gegen die Grossen. Noch einmal: Dieses Zusammenrücken des Niveaus ist Teil der internationalen Entwicklung im Eishockey.

An alle Experten:
Es ist heute schwieriger denn je, richtige Resultatvorhersagen an einem olympischen Männer-Eishockeyturnier zu tätigen und extrem gefährlich, „Weisheiten“ aus einem derart kurzen Turnier abzuleiten. Es führt auf die falsche Spur wenn wir jetzt die Russen einseitig knebeln und die Kanadier loben. Gibt es einen einzigen Eishockeyexperten unter uns der vorhergesagt hat, dass Crosby, Toews, Getzlaf, Tavares, St.Louis, Malkin, Ovechkin, Sedin, Perry, Kane und Marleau zusammengezählt nur auf  drei Tore kommen vor dem Goldmedaillenspiel? Die Welt ist viel komplizierter als wir uns dies wünschen. Wir sind durstig nach „Wahrheiten“ und immer auf der Suche nach dem Richtig und dem Falsch im Leben und im Eishockey. Wir müssen aber demütig akzeptieren, dass auch Experten nicht sehr viel über die Welt wissen und auch nicht über das Richtig und Falsch im Eishockey. Es gibt sehr viel mehr Fragezeichen als Antworten und wenn jemand das Gegenteil behauptet dann ist er vermutlich kein Experte... ;-)

Starkes, subjektives Ueberzeugtsein ist kein zuverlässiger Indikator für die Richtigkeit – eine schwache Ueberzeugung ist oft informativer.

Das Goldmedaillenspiel war exzellent, ganz grosses Kino! ... oder ist auch dies „nur“ ein starkes, subjektives Ueberzeugtsein? ;-)


Thomas Roost, 1. März 2014