Seit geraumer Zeit trage
ich ein Unwohlsein in mir rum denn ich will was sagen, schreiben, aussprechen
aber ich habe den Zünder für die Rakete noch nicht gefunden. Die stets
inflationärer benützten und absolut nichts sagenden Plattitüden nach Spielen
wie z.B. „wir haben Charakter gezeigt“, „wir müssen und werden härter arbeiten
als die anderen“, „wir haben jetzt wieder eine Leistungskultur“ etc. etc. gehen
mir richtig auf den Geist. Es gelang mir aber bisher nicht, dieses Unbehagen in
eine sinnvolle Botschaft umzuwandeln. Es brauchte jemand der das
Ketchup-Flaschen-Syndrom (zuerst kommt gar nichts und dann alles miteinander)
provozierte und dieser Jemand ist jetzt gefunden! Danke, Sean McIndoe, danke für
deine inspirierenden Worte, deine unpopulären aber umso wichtigeren Korrekturen
zu teilweise einfältigem Hockey-Gedankengut. Diese liegen den nachfolgenden Zeilen
zugrunde. Sean McIndoe ist ein nordamerikanischer Hockey-Blogger, zu finden
unter „Down goes Brown“. Here we go:
Charakter wird über- und
Talent wird unterschätzt. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Charakter ist
wichtig, im Leben ganz allgemein und selbstverständlich ganz besonders auch im
Spitzensport. Es gibt Spieler die arbeiten sehr hart und andere sind faul. Es
gibt Spieler die verbreiten eine positive Atmosphäre in der Kabine und andere
sind Gift. 90% der NHL-Spieler liegen talentmässig sehr nahe beisammen. Ein „Mü“
härter arbeiten hier und ein wenig mehr Teamzusammenhalt da kann die kleine
Differenz ausmachen, um in einem oder zwei Spielen die notwendigen Punkte für
die Playoff-Qualifikation zu schaffen. Dies will ich nicht in Frage stellen.
Charakter ist wichtig aber
nicht alles. Wenn ich die unzähligen Hockeyanalysen vor Augen halte die ich in
den letzten Jahren aufgesogen habe dann habe ich das Gefühl bekommen, dass
Charakter das einzig Wichtige ist im Hockeysport. Es werden Spieler
übersteigert beurteilt die "gut sind in
der Kabine". Wenn ich dieser Logik folge dann warte ich darauf, dass Clubs
irgendwann Viktor Jacobbo, Pfarrer Sieber oder eine Femme Fatale engagieren, um
die Stimmung in der Kabine situationsabhängig in die richtige Richtung zu lenken. Der Charakter, die Stimmungslage, der
Teamgeist, das waren mal einzelne Erfolgsfaktoren von vielen und heute scheinen
es die wichtigsten Faktoren überhaupt zu sein wenn nicht die einzigen. Viele Coaches im Nachgang zu den Spielen, viele Journalisten und Fans die in den Printmedien und im Web ihren Kommentar abgeben sprechen heute über den Charakter als den
heilsbringenden Faktor. Wenn eine Mannschaft im letzten Drittel einen
0-5-Rückstand zu einer 3-6-Niederlage „korrigiert“ dann hat die Mannschaft
Charakter gezeigt. Bei einem Sieg hat man härter gearbeitet und eine
Siegesserie wird mit dem Einzug einer Leistungskultur erklärt. Niederlagen
werden mit zu wenig Kampfgeist, zu wenig hart gearbeitet und mit „zu wenig
Charakter gezeigt“ analysiert. Die ultimativen Erfolgsfaktoren sind demnach:
Charakter, härter arbeiten, positiv denken und eine so genannte Leistungskultur. Kleine Frage am Rande: Kennen Sie auch nur
einen einzigen Coach eines Profisportteams der eine Leistungskultur bei sich
verneinen würde?
Zurück zum Charakter: Charakter ist nicht alles, Charakter ist nicht
wichtiger als Talent und nicht wichtiger als den einzelnen Spielern passende
Rollen zuzuordnen. Noch wichtiger als
Charakter ist es, das notwendige Glück zu haben, doch dazu später! Charakter
und damit verwandte Bereiche wie zwischenmenschliche Chemie, Kultur, Körpersprache und Wettbewerbsfähigkeit
dominieren die heutigen „Hockey-Analysen“. Mannschaften verlieren heute Spiele nicht
weil sie schlechte Spieler oder einen unpassenden „Game-Plan“ haben sondern sie
kämpfen zu wenig, arbeiten zu wenig hart, zeigen zu wenig Charakter und lassen
eine Leistungskultur vermissen. „Jeder kann gewinnen, er muss es nur wollen“ – „wir
haben den Sieg mehr gewollt“ etc. etc. Entschuldigung, aber all dies ist
„Kindergartenrhetorik“ in Reinkultur. Nicht jeder kann in der NHL und auch
nicht in der National League A gewinnen. Hart arbeiten und ein guter
Teamkollege sein sind zweifelsfrei positive Eigenschaften. Aber… es gibt
Spieler die sind schlicht und einfach besser als andere, manchmal enden
richtige Spielstrategien in einem resultatmässigen Desaster und manchmal
spielt und kämpft man grossartig aber
der Puck findet den Weg nicht ins Tor. Und was tun wir „Analysten“? Wir
negieren all dies und hängen alles an grossartigen oder fehlenden
Persönlichkeiten auf.
In der Psychologie gibt es
das Phänomen des fundamentalen Attributionsfehlers. Damit bezeichnet man die
Neigung, den Einfluss von Faktoren wie z.B. Persönlichkeitseigenschaften,
Einstellungen und Meinungen auf das Verhalten anderer systematisch zu
überschätzen und äussere Faktoren (z.B. Glück) zu unterschätzen. Dies ist ein
kapitaler menschlicher Fehler der in der oberflächlichen Sportberichterstattung
Einzug gehalten hat und mittlerweile sogar vielerorts dominiert. Hierzu ein Beispiel: Wenn ich einen
Verkehrsunfall verursache dann „entschuldige“ ich dies mit „harter, ermüdender
Tag im Büro“, „das Kind hat auf dem Rücksitz geschrien“, „wegen dem Regen und
dem Nebel konnte ich nicht gut sehen“ etc. etc. Wenn ein anderer mich mit dem
Auto rammt dann ist dieser Andere schlicht ein Idiot. Wenn wir dies erkennen
dann stellen wir schnell fest, dass uns bei Sportanalysen dieser Fehler immer und immer wieder begegnet. Eine unterdurchschnittliche
Phase eines Starstürmers wird nicht damit erklärt, dass er von gegnerischen
Defensivspezialisten sehr clever kontrolliert wurde oder dass er vom Coach eine
nicht sehr passende Rolle auferlegt bekommen hat. Auch latente Verletzungen
oder ganz einfach eine Phase ohne Wettkampfglück werden kaum als Erklärungen
herbeigezogen und schon gar nicht akzeptiert. Nein, die Moralkeule wird
ausgepackt: „Er hat nicht genug gekämpft, sich gegen das drohende Unheil nicht
genügend gewehrt, zu wenig Siegeswille war zu erkennen, den Weg zum Sieg nicht
gefunden.“ Wir neigen dazu, diesen kleinen Teil der Erfolgs- oder Misserfolgsgründe
massiv übersteigert wahrzunehmen. Wir bewegen uns vom eigentlichen
Hockeyspiel hin zur Moralität und reichern dieses Menu mit Helden
und Schurken an; am Ende gewinnt immer der „Held“. Märchenstunde pur! „Du musst
ganz einfach dein Bestes geben und alles wird gut“. Ja, dies funktioniert
vielleicht wenn ich dies meiner kleinen Tochter am ersten Schultag mit auf den
Weg gebe, um ihre Nervosität zu lindern. Aber
dies ist keine ernst zu nehmende Strategie im professionellen Sport. Wir müssen
uns vom Infatilismus in der Sportanalyse trennen.
Lasst uns den Faktor Glück sachlich und entspannt diskutieren. Die
Ideologie bleibt für einmal aussen vor. Glück ist ein grosser Faktor im
professionellen Eishockey und das ist ok so. Wir sollten demütig genug sein und
dies endlich respektieren und akzeptieren. Jedermann der Eishockeyspiele
ehrlich und sachlich analysiert weiss, dass so genannte „lucky bounces“ des
Pucks sehr oft das Spielresultat entscheiden oder mindestens mitentscheiden.
Ein diskussionswürdiger hoher Stock führt zu einem Powerplay, ein unglücklicher
Abpraller führt zu einer Torchance oder eine zufällig abgelenkte Scheibe
düpiert den Goalie und schon haben wir das „game winning goal“. Das ist pures
Glück resp. Unglück und es geschieht immer und immer wieder. Selbstverständlich
will man dies nie hören und lesen denn man will ja alles kontrollieren und
erklären können. Glück und Unglück sind immer und überall in der NHL und in der
National League A und es sollte weder verboten noch ignoriert werden. Es ist
sicher so, dass Glück nie allein über den Ausgang eines Spiels entscheidet, es
gibt viele andere Faktoren die man auch berücksichtigen muss. Es stimmt auch,
dass sich über eine lange Saison hinweg Glück und Unglück in der Regel etwas
ausgleichen aber: „Sie haben unglücklich gespielt“ sollte immer am Anfang einer
Analyse stehen und nicht erst am Ende. Wir dürfen keine Angst haben dies
anzusprechen wenn wir über den Ausgang eines Spiels, einer Serie oder einer
gesamten Saison diskutieren.
Eine zweite Unart in der Sportanalyse ist die Verherrlichung resp.
Verurteilung von Spielern die in einer kurzen Zeitspanne extrem gute oder
schwache Werte vorzuweisen haben. Die Goalie-Save-Percentage aus nur wenigen
Spielen als Beurteilungsmassstab zu verwenden ist höchst unprofessionell.
Stürmer die in 7 Spielen 8 Tore erzielen um dann diese „Pace“ als
Hochrechnungsgrundlage für eine gesamte Saison zu verwenden ist genau so naiv.
Topstürmer, die während 20 Spielen keine Tore erzielen, zu verurteilen ist
schlicht falsch. Hierzu folgende Fakten: In der letzten NHL-Saison gab es eine
Phase von 18 Spielen in denen Sidney Crosby – der Liga-Topskorer – nur ein
einziges Tor erzielte. Ryan Getzlaf hat während 21 Spielen nur 2 Tore erzielt.
Im Verlaufe einer langen Saison gibt es nicht nur bei Teams sondern auch bei
den besten Spielern der Welt Phasen in denen alles von alleine zu funktionieren
scheint und Phasen in denen unerklärlicherweise nichts geht. Das ist normal und
wir sollten uns davor hüten, in solchen Phasen voreilige Schlüsse zu ziehen.
Lasst uns das Hockeygeschehen wie erwachsene Menschen sachlich und
professionell analysieren und beurteilen.
Ich habe fertig!
Thomas Roost
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