Wednesday, September 24, 2014

"Wir haben härter gearbeitet und Charakter gezeigt"

Seit geraumer Zeit trage ich ein Unwohlsein in mir rum denn ich will was sagen, schreiben, aussprechen aber ich habe den Zünder für die Rakete noch nicht gefunden. Die stets inflationärer benützten und absolut nichts sagenden Plattitüden nach Spielen wie z.B. „wir haben Charakter gezeigt“, „wir müssen und werden härter arbeiten als die anderen“, „wir haben jetzt wieder eine Leistungskultur“ etc. etc. gehen mir richtig auf den Geist. Es gelang mir aber bisher nicht, dieses Unbehagen in eine sinnvolle Botschaft umzuwandeln. Es brauchte jemand der das Ketchup-Flaschen-Syndrom (zuerst kommt gar nichts und dann alles miteinander) provozierte und dieser Jemand ist jetzt gefunden! Danke, Sean McIndoe, danke für deine inspirierenden Worte, deine unpopulären aber umso wichtigeren Korrekturen zu teilweise einfältigem Hockey-Gedankengut.  Diese liegen den nachfolgenden Zeilen zugrunde. Sean McIndoe ist ein nordamerikanischer Hockey-Blogger, zu finden unter „Down goes Brown“. Here we go:

Charakter wird über- und Talent wird unterschätzt. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Charakter ist wichtig, im Leben ganz allgemein und selbstverständlich ganz besonders auch im Spitzensport. Es gibt Spieler die arbeiten sehr hart und andere sind faul. Es gibt Spieler die verbreiten eine positive Atmosphäre in der Kabine und andere sind Gift. 90% der NHL-Spieler liegen talentmässig sehr nahe beisammen. Ein „Mü“ härter arbeiten hier und ein wenig mehr Teamzusammenhalt da kann die kleine Differenz ausmachen, um in einem oder zwei Spielen die notwendigen Punkte für die Playoff-Qualifikation zu schaffen. Dies will ich nicht in Frage stellen.

Charakter ist wichtig aber nicht alles. Wenn ich die unzähligen Hockeyanalysen vor Augen halte die ich in den letzten Jahren aufgesogen habe dann habe ich das Gefühl bekommen, dass Charakter das einzig Wichtige ist im Hockeysport. Es werden Spieler übersteigert beurteilt die "gut sind in der Kabine". Wenn ich dieser Logik folge dann warte ich darauf, dass Clubs irgendwann Viktor Jacobbo, Pfarrer Sieber oder eine Femme Fatale engagieren, um die Stimmung in der Kabine situationsabhängig in die richtige Richtung zu lenken.  Der Charakter, die Stimmungslage, der Teamgeist, das waren mal einzelne Erfolgsfaktoren von vielen und heute scheinen es die wichtigsten Faktoren überhaupt zu sein wenn nicht die einzigen. Viele Coaches im Nachgang zu den Spielen, viele Journalisten und Fans die in den Printmedien und im Web ihren Kommentar abgeben sprechen heute über den Charakter als den heilsbringenden Faktor. Wenn eine Mannschaft im letzten Drittel einen 0-5-Rückstand zu einer 3-6-Niederlage „korrigiert“ dann hat die Mannschaft Charakter gezeigt. Bei einem Sieg hat man härter gearbeitet und eine Siegesserie wird mit dem Einzug einer Leistungskultur erklärt. Niederlagen werden mit zu wenig Kampfgeist, zu wenig hart gearbeitet und mit „zu wenig Charakter gezeigt“ analysiert. Die ultimativen Erfolgsfaktoren sind demnach: Charakter, härter arbeiten, positiv denken und eine so genannte Leistungskultur.  Kleine Frage am Rande: Kennen Sie auch nur einen einzigen Coach eines Profisportteams der eine Leistungskultur bei sich verneinen würde?

Zurück zum Charakter:  Charakter ist nicht alles, Charakter ist nicht wichtiger als Talent und nicht wichtiger als den einzelnen Spielern passende Rollen zuzuordnen.  Noch wichtiger als Charakter ist es, das notwendige Glück zu haben, doch dazu später! Charakter und damit verwandte Bereiche wie zwischenmenschliche Chemie, Kultur, Körpersprache und Wettbewerbsfähigkeit dominieren die heutigen „Hockey-Analysen“. Mannschaften verlieren heute Spiele nicht weil sie schlechte Spieler oder einen unpassenden „Game-Plan“ haben sondern sie kämpfen zu wenig, arbeiten zu wenig hart, zeigen zu wenig Charakter und lassen eine Leistungskultur vermissen. „Jeder kann gewinnen, er muss es nur wollen“ – „wir haben den Sieg mehr gewollt“ etc. etc. Entschuldigung, aber all dies ist „Kindergartenrhetorik“ in Reinkultur. Nicht jeder kann in der NHL und auch nicht in der National League A gewinnen. Hart arbeiten und ein guter Teamkollege sein sind zweifelsfrei positive Eigenschaften. Aber… es gibt Spieler die sind schlicht und einfach besser als andere, manchmal enden richtige Spielstrategien in einem resultatmässigen Desaster und manchmal spielt  und kämpft man grossartig aber der Puck findet den Weg nicht ins Tor. Und was tun wir „Analysten“? Wir negieren all dies und hängen alles an grossartigen oder fehlenden Persönlichkeiten auf.

In der Psychologie gibt es das Phänomen des fundamentalen Attributionsfehlers. Damit bezeichnet man die Neigung, den Einfluss von Faktoren wie z.B. Persönlichkeitseigenschaften, Einstellungen und Meinungen auf das Verhalten anderer systematisch zu überschätzen und äussere Faktoren (z.B. Glück) zu unterschätzen. Dies ist ein kapitaler menschlicher Fehler der in der oberflächlichen Sportberichterstattung Einzug gehalten hat und mittlerweile sogar vielerorts dominiert.  Hierzu ein Beispiel: Wenn ich einen Verkehrsunfall verursache dann „entschuldige“ ich dies mit „harter, ermüdender Tag im Büro“, „das Kind hat auf dem Rücksitz geschrien“, „wegen dem Regen und dem Nebel konnte ich nicht gut sehen“ etc. etc. Wenn ein anderer mich mit dem Auto rammt dann ist dieser Andere schlicht ein Idiot. Wenn wir dies erkennen dann stellen wir schnell fest, dass uns bei Sportanalysen dieser Fehler immer und immer wieder begegnet. Eine unterdurchschnittliche Phase eines Starstürmers wird nicht damit erklärt, dass er von gegnerischen Defensivspezialisten sehr clever kontrolliert wurde oder dass er vom Coach eine nicht sehr passende Rolle auferlegt bekommen hat. Auch latente Verletzungen oder ganz einfach eine Phase ohne Wettkampfglück werden kaum als Erklärungen herbeigezogen und schon gar nicht akzeptiert. Nein, die Moralkeule wird ausgepackt: „Er hat nicht genug gekämpft, sich gegen das drohende Unheil nicht genügend gewehrt, zu wenig Siegeswille war zu erkennen, den Weg zum Sieg nicht gefunden.“ Wir neigen dazu, diesen kleinen Teil der Erfolgs- oder Misserfolgsgründe massiv übersteigert wahrzunehmen. Wir bewegen uns vom eigentlichen Hockeyspiel hin zur Moralität und reichern dieses Menu mit Helden und Schurken an; am Ende gewinnt immer der „Held“. Märchenstunde pur! „Du musst ganz einfach dein Bestes geben und alles wird gut“. Ja, dies funktioniert vielleicht wenn ich dies meiner kleinen Tochter am ersten Schultag mit auf den Weg gebe, um ihre Nervosität zu lindern.  Aber dies ist keine ernst zu nehmende Strategie im professionellen Sport. Wir müssen uns vom Infatilismus in der Sportanalyse trennen. 

Lasst uns den Faktor Glück sachlich und entspannt diskutieren. Die Ideologie bleibt für einmal aussen vor. Glück ist ein grosser Faktor im professionellen Eishockey und das ist ok so. Wir sollten demütig genug sein und dies endlich respektieren und akzeptieren. Jedermann der Eishockeyspiele ehrlich und sachlich analysiert weiss, dass so genannte „lucky bounces“ des Pucks sehr oft das Spielresultat entscheiden oder mindestens mitentscheiden. Ein diskussionswürdiger hoher Stock führt zu einem Powerplay, ein unglücklicher Abpraller führt zu einer Torchance oder eine zufällig abgelenkte Scheibe düpiert den Goalie und schon haben wir das „game winning goal“. Das ist pures Glück resp. Unglück und es geschieht immer und immer wieder. Selbstverständlich will man dies nie hören und lesen denn man will ja alles kontrollieren und erklären können. Glück und Unglück sind immer und überall in der NHL und in der National League A und es sollte weder verboten noch ignoriert werden. Es ist sicher so, dass Glück nie allein über den Ausgang eines Spiels entscheidet, es gibt viele andere Faktoren die man auch berücksichtigen muss. Es stimmt auch, dass sich über eine lange Saison hinweg Glück und Unglück in der Regel etwas ausgleichen aber: „Sie haben unglücklich gespielt“ sollte immer am Anfang einer Analyse stehen und nicht erst am Ende. Wir dürfen keine Angst haben dies anzusprechen wenn wir über den Ausgang eines Spiels, einer Serie oder einer gesamten Saison diskutieren.

Eine zweite Unart in der Sportanalyse ist die Verherrlichung resp. Verurteilung von Spielern die in einer kurzen Zeitspanne extrem gute oder schwache Werte vorzuweisen haben. Die Goalie-Save-Percentage aus nur wenigen Spielen als Beurteilungsmassstab zu verwenden ist höchst unprofessionell. Stürmer die in 7 Spielen 8 Tore erzielen um dann diese „Pace“ als Hochrechnungsgrundlage für eine gesamte Saison zu verwenden ist genau so naiv. Topstürmer, die während 20 Spielen keine Tore erzielen, zu verurteilen ist schlicht falsch. Hierzu folgende Fakten: In der letzten NHL-Saison gab es eine Phase von 18 Spielen in denen Sidney Crosby – der Liga-Topskorer – nur ein einziges Tor erzielte. Ryan Getzlaf hat während 21 Spielen nur 2 Tore erzielt. Im Verlaufe einer langen Saison gibt es nicht nur bei Teams sondern auch bei den besten Spielern der Welt Phasen in denen alles von alleine zu funktionieren scheint und Phasen in denen unerklärlicherweise nichts geht. Das ist normal und wir sollten uns davor hüten, in solchen Phasen voreilige Schlüsse zu ziehen.

Lasst uns das Hockeygeschehen wie erwachsene Menschen sachlich und professionell analysieren und beurteilen.

Ich habe fertig!


Thomas Roost

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